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WHO erklärt Online-Spielsucht offiziell zur Krankheit
Staat verliert Kontrolle über das Glücksspiel
Glücksspielgesetz in SH
Immer mehr Spielsüchtige im Norden
Glücksspiel und die Spirale ins persönliche Verderben
WHO erklärt Online-Spielsucht offiziell zur Krankheit

Wer seinen Alltag vernachlässigt, um Computer zu spielen, gilt künftig als krank. Die WHO hat Online-Spielsucht in ihren Katalog der Krankheiten aufgenommen. Viele Experten sehen das kritisch.

 

Exzessives Computer- oder Videospielen gilt nach einem neuen Verzeichnis der Weltgesundheitsorganisation (WHO) demnächst als Krankheit. Gaming Disorder oder Online-Spielsucht wird in den neuen Katalog der Krankheiten (ICD-11) aufgenommen, wie die WHO beschlossen hat, hinter Glücksspielsucht.

 

Der Katalog erscheint am 18. Juni. Er dient Ärzten als Hilfe bei der Diagnose. Außerdem nutzen Krankenkassen ihn oft als Grundlage für Kostenübernahmen.

 

Die Aufnahme der Online-Spielsucht ist unter Wissenschaftlern umstritten. Spieler könnten dadurch grundlos als therapiebedürftig stigmatisiert werden, sagen sie. Vladimir Poznyak vom WHO-Programm Suchtmittelmissbrauch widerspricht. Die Abgrenzung zwischen Spielspaß und Sucht sei klar definiert, sagte er. "Die Aufnahme in den Katalog dürfte weitere Forschung auf dem Gebiet stimulieren."

Tot nach 40 Stunden Online-Spielen

Der ICD-11 nennt drei Kriterien, die normales Spielen von einer Sucht unterscheiden:


  • Entgleitende Kontrolle etwa bei Häufigkeit und Dauer des Spielens,

  • wachsende Priorität des Spielens vor anderen Aktivitäten und

  • Weitermachen auch bei negativen Konsequenzen.

"Spielsüchtig ist jemand, der Freunde und Familie vernachlässigt, der keinen normalen Schlafrhythmus mehr hat, sich wegen des ständigen Spielens schlecht ernährt oder sportliche Aktivitäten sausen lässt", sagt er. Dem Spieler mache es auch keinen Spaß mehr, aber er komme nicht davon los. "Ein Teufelskreis", sagt Poznyak. "Es betrifft vor allem junge Menschen."

Renommierte Psychologen warnten vor dem Schritt

Viele Experten überzeugt das nicht. Der Psychologe Andy Przybylski von der Universität Oxford etwa warnte mit rund 30 Kollegen in einem offenen Brief vor dem WHO-Schritt. "Es besteht das Risiko, dass solche Diagnosen missbraucht werden", schrieben sie. Geprüft werden müsse, ob bei exzessiv spielenden Patienten nicht eher zugrundeliegende Probleme wie Depressionen oder soziale Angststörungen behandelt werden müssten.

 

 Wer beim Spielen schon mal etwas Anderes habe schleifen lassen - Hausputz, Aufräumen oder andere lästige Arbeit - müsse dringend zum Arzt, ätzte der Kommunikationswissenschaftler Thorsten Quandt sarkastisch, als die Pläne der WHO vor einem Jahr bekannt wurden.

 

Langes Onlinespielen als Sucht zu definieren, könne zum Dammbruch werden, glaubt er: "Von Handysucht bis Social-Media-Depression wäre vieles als eigenständige "Medien"-Krankheit denkbar. In der Folge wären zahlreiche Kinder, Jugendliche und Erwachsene qua Definition von heute auf morgen therapiebedürftig."

 

Die 11. Auflage des Katalogs, International Classification of Diseases, muss formell noch von der Weltgesundheitsversammlung im kommenden Frühjahr abgesegnet werden. Das gilt als Formalität. Der Katalog enthält Tausende Krankheiten. Die 10. Auflage stammte aus dem Jahr 1992, wurde aber in den folgenden Jahren schon ständig aktualisiert.

 

Quelle: Spiegel Online 19.06.2018

Staat verliert Kontrolle über das Glücksspiel

Zocken im Internet und in Café-Casinos nimmt rasant zu. Dem Staat entgeht viel Steuergeld. Nun wächst der Druck, den Grau- und Schwarzbereich auszutrocknen. Doch schon 20 Prozent des Marktes ist in den unregulierten Bereich abgewandert. Und der Polizei fehlt das nötige Personal.

So eine Kaffeehaus-Dichte gibt es nicht einmal in Wien.

Am dollsten ist es am Britzer Damm in Berlin. „Open 24 Stunden“, wirbt ein rot blinkendes Schild am Eingang. Ungewöhnlich für ein Café. Drinnen findet sich in Zimmer 1 das „Café Orient“. Vor Zimmer 2 weist ein Schild auf die „Britzer Milchbar“ hin. In Zimmer 3 ist das „Wiener Café“ - und so weiter. Sechs Cafés auf engstem Raum. Dabei sind alle Räume gleich, nur getrennt durch Glaswände. Immer bestückt mit einer Kaffeemaschine - und drei Glücksspielautomaten.

Wird das Geld primär mit dem Verkauf von Kaffee verdient, dürfen in einem Café drei Spielautomaten aufgestellt werden. Doch seit Mittwoch sind die Cafés dicht. Denn da fand in Berlin eine Großkontrolle statt. Dabei wurden die sechs Café-Casinos in Neukölln geschlossen, weil die Kontrolleure sie als zusammenhängende Spielhalle bewerteten, wie die Polizei am Donnerstag mitteilte. Insgesamt kontrollierte die Polizei 33 Spielstätten, darunter 29 Café-Casinos, zwei Spielhallen und zwei Wettbüros - nur in einem Fall sei nichts zu beanstanden gewesen.

Branche macht 13,5 Milliarden Euro Ertrag – ausgezahlte Gewinne schon abgezogen.

Beim Verband deutsche Automatenwirtschaft kommen die Razzien gut an, die Branche fordert schon länger ein härteres Vorgehen gegen das illegale Spiel. „Mit Sorge sehen wir den Wildwuchs von Café-Casinos und des Spiels in Hinterzimmern. Hier wird der Spieler- und Jugendschutz mit Füßen getreten“, sagt Vorstandssprecher Georg Stecker.

Rund 13,5 Milliarden Euro Ertrag macht die Glücksspielbranche in Deutschland pro Jahr derzeit, die ausgezahlten Gewinne sind davon bereits abgezogen. Ein gewaltiger Markt - mit gefährlichem Sucht- und Verschuldungspotenzial für die Zocker. Nach dem Jahresreport 2016 der Spielaufsichtsbehörden der Länder gelten 81 Prozent des Marktes als reguliert, 19 Prozent nicht.

Legale Betriebe haben hohe Kosten für Personal, Auflagen und zertifizierte Automaten

Und dieser Bereich wächst. Um 15 Prozent im Jahr, schätzt ein Branchenvertreter. Zum Beispiel Fußballwetten finden vor allem im Internet statt. Aber viele Anbieter kommen nur zum Zuge, weil es an EU-weiten Regeln fehlt. Und im Automatensektor blühen sogenannte Café-Casinos wie in Berlin-Neukölln. In der Hauptstadt gibt es nach Schätzungen der Branche neben 470 regulären Spielhallen etwa 2500 Café-Casinos.

Doch zahlen sie korrekt Steuern? Sind das nicht verkappte, unkontrollierte „Spielhöllen“? Die legalen Spielhallen brauchen geschultes Personal, haben strenge Auflagen und zertifizierte Spielautomaten. Das kostet Geld und schmälert Gewinne. Erklärtes Ziel der Politik war es, das Glücksspiel einzudämmen - die „klassische“ Branche fühlt sich gegängelt und macht mächtig Druck, dass der Staat gegen die Konkurrenz vorgeht.

Polizei fehlt Personal für ausreichende Kontrollen

Der Vorwurf: Es gibt ein Vollzugsproblem beim Vorgehen gegen illegale Einrichtungen und Glücksspiel im Netz. In einer Stadt wie Berlin mit Terrorgefahren und anderen Dauerbelastungen für Polizei und Ordnungsbehörden fehlt Personal, um die Szene genauer zu durchleuchten. Der Sprecher des Verbandes der Automatenwirtschaft, Georg Stecker, sagt: „Mit großer Sorge sehen wir, dass die Illegalität am Markt enorm zunimmt.“ Die Kommunen seien aufgrund von Steuerausfällen „die Verlierer dieser Marktentwicklung“.

„Wer sich an Recht und Gesetz in Deutschland hält, ist der Dumme“

Noch deutlicher wird Daniel Henzgen vom Automatenhersteller Löwen: „Wer sich an Recht und Gesetz in Deutschland hält, ist der Dumme.“ Wenn der Staat nicht durchgreife, dann öffne der deutsche Gesetzgeber „das Tor zu Hölle“. Der illegale Marktanteil werde weiter massiv wachsen. Der Staat beweise beim Glücksspiel, dass er die Dynamik der Digitalisierung nicht begreife, sagt er. „So erschließt es sich mir nicht, warum staatlich-konzessionierte Spielhallen Mindestabstände einhalten sollen, wo auf jedem Handy circa 1200 deutschsprachige Online-Casino-Seiten jederzeit verfügbar sind.“

Mit Mindestabständen von Spielhalle zu Spielhalle will man deren Zahl verringern - aber neben dem unregulierten Internetgeschäft reiht sich etwa in Berlin-Neukölln Café-Casino an Café-Casino. Man gefährde Tausende Arbeitsplätze, schaffe den Spieler- und Jugendschutz ab und verzichte „auf Milliarden von Steuereinnahmen“, wettert der Löwen-Lobbyist Henzgen.

Staatliche Wettbüros nehmen 200 Millionen Euro ein – private 7 Milliarden

Die privaten Unternehmen der Branche fürchten massiv um ihr Geschäft. Und hängen der Theorie an, dass gerade die starke Regulierung im legalen Bereich, etwa beim Betrieb von Spielhallen, zu einer Ausbreitung von unerlaubten Glücksspielen in Schwarzmärkten führt.

Hessens Finanzminister Thomas Schäfer (CDU) betont hingegen, dass vor allem die staatlichen Anbieter unter dem Wildwuchs leiden. „Die einzigen, die sich an die vorhandenen Regeln halten, sind die staatlichen Anbieter, deren Überschüsse gemeinnützig verwendet werden“, so Schäfer. Beispiel Fußballwetten, wo der Deutsche Lotto- und Toto-Block mit Oddset und Toto 2017 rund 200 Millionen Euro Einsatz zu verzeichnen hatte - über 7 Milliarden Euro machten die privaten Anbieter. Das sei eine große Gefahr für die Förderung des Sports, des Ehrenamtes oder des Denkmalschutzes - denn ein Teil der Einnahmen fließt hierein.

Regulierungsschlupfloch in Schleswig-Holstein

Die Online-Anbieter nutzen rechtliche Lücken in Europa - und auch die Uneinigkeit der Bundesländer. Dank eines Regulierungsschlupflochs in Schleswig-Holstein können Online-Casinos und Wettanbieter wie das von Ex-Nationaltorwart Oliver Kahn beworbene Tipico ungehindert bundesweit um Kundschaft werben und ihre Dienste anbieten. „Viele Fans in der Fußball-Bundesliga jubeln ihrer Mannschaft zu, doch deren Glückspiel-Sponsoren sind schlicht illegal“, kritisiert Minister Schäfer.

Deutschland habe sich zu einem Paradies für illegales Glücksspiel entwickelt, sagt auch Tilman Becker, Leiter der Forschungsstelle Glücksspiel der Universität Hohenheim. Die Uneinigkeit der Länder habe den Markt aufblühen lassen. Doch ein neuer Glücksspiel-Staatsvertrag ist nicht absehbar.

Kaffeemaschinen längst verstaubt – und funktionieren gar nicht

In Berlin-Neukölln ist der Wildwuchs hinter der Illusion einer Kaffeehaus-Idylle versteckt. Es müsse gegen illegale Café-Casinos eine konzertierte Aktion der Sicherheitsbehörden geben, fordert Hessens Finanzminister. Wer in Berlin-Neukölln die Straßen entlangläuft, sieht überall Fenster, die von außen verklebt sind mit großflächigen Bildern von Kaffeebohnen, aufgeschäumten Cappuccinos und dampfendem Kaffee.

Besonders Hinweise, dass alles videoüberwacht ist und Jugendliche unter 18 keinen Zutritt haben, irritieren. Die Tür geht auf, Rauchschwaden dringen heraus. Nach Kaffee riecht es hier nicht. An Automaten wird gedaddelt, was das Zeug hält, Euro-Münzen werden eingeworfen, die Spiele heißen Western Jack oder Super Hero. „Einen Kaffee bitte.“ Die Maschine hat schon Staub angesetzt und wurde offensichtlich länger nicht benutzt. „Entschuldigung, aber Kaffee geht nicht.“ Eine Trennwand daneben ist das nächste „Café“. Auch dort heißt es: „Sorry, die Maschine ist heute kaputt.“

Quelle: Focus Online 01.06.2018

Glücksspielgesetz in SH

Härtefallregelung: Glücksspielgesetz wird in SH zum Schlag ins Wasser.</br>Das neue Glücksspielgesetz sollte die Spielotheken-Dichte in Schleswig-Holstein deutlich verringern – doch passiert ist bislang nichts.

Kiel | Eigentlich läuft die Gnadenfrist bald ab. Fünf Jahre nach dem Inkrafttreten des Glücksspielstaatsvertrages müssen im Norden alle Spielotheken schließen, die den neuen Regeln nicht entsprechen. Und die lauten in Schleswig-Holstein: Mehrfachkonzessionen sind verboten. Doch so ernst nehmen es die Kommunen nicht mit den Vorgaben.

Darum geht es: Weil pro Daddelbude nur jeweils zwölf Automaten aufgestellt werden dürfen, haben findige Spielhallenbetreiber in der Vergangenheit Ladenlokale formal geteilt und mit zwei separaten Eingängen versehen. Sie beantragen dafür zwei Konzessionen und dürfen dann insgesamt 24 einarmige Banditen aufstellen, an denen nicht nur Süchtige ihr Geld verjubeln. So gibt es in der Landeshauptstadt derzeit 13 Standorte mit 27 „Mehrfachkonzessionen“, in einem Fall wurde sogar eine Dreifachkonzession erteilt. Insgesamt kann man derzeit in Kiel in 51 Spielhallen sein Glück suchen.

Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die vom Gesetzgeber beabsichtigte Verringerung der Spielotheken-Dichte zwecks Bekämpfung der Spielsucht ein Schlag ins Wasser wird. Von der einstigen Berechnung der Spielhallenbetreiber, wonach mit dem neuen Gesetz 55 Prozent aller Daddelbuden im Norden dichtmachen müssen und gut die Hälfte der 3000 Beschäftigten den Job verlieren, bleibt nichts übrig, weil großzügig mit der sogenannten Härtefallregelung umgegangen wird.

Bestes Beispiel: Kiel. Von Spielhallen „im baulichen Verbund“ müssten eigentlich 14 schließen. Doch in den vergangenen Wochen wurden bereits zwei Anträge auf eine Härtefallregelung genehmigt. Fünf weitere Anträge wurden gestellt und werden derzeit bearbeitet. „In vielen Fällen dürfte ein Härtefall aufgrund langfristig abgeschlossener Mietverträge oder aufgrund von Investitionen bestehen“, erläutert Stadtsprecher Arne Gloy.

Auch die Landesregierung geht davon aus, dass der vom Gesetzgeber beabsichtigte Kampf gegen die Spielsucht höchstens langfristig Wirkung zeigt. Weil keine neuen Mehrfachkonzessionen erteilt werden und beim Eigentümerwechsel kein Bestandsschutz gilt, „setzt ein sukzessiver Abbau der Spielhallen ein“, hofft Harald Haase, Sprecher des Wirtschaftsministeriums.

Von den 282 alten Mehrfachkonzessionen in Schleswig-Holstein seien zwar grundsätzlich alle von der Befristung betroffen. „In der Praxis dürfte dies jedoch nicht zu einem Aus von allen betroffenen Spielhallen führen, da es weiterhin möglich ist, an den Standorten der bisherigen Mehrfachkonzessionen zumindest eine Einzelspielhalle weiter zu betreiben.“ Und dann: „Im Hinblick auf den Vertrauensschutz und den Umstand, dass Spielhallenbetreiber ein ordentliches Gewerbe ausüben, müssen längere Übergangsfristen bei dem Abbau der Spielhallenballung in Kauf genommen werden.“

Für die großzügige Auslegung der Härtefallklausel werden auch die Kämmerer kämpfen. Die Einnahmen für Spielgeräte mit Gewinnmöglichkeit beliefen sich allein in Kiel 2015 auf 4,1 Millionen Euro. Für 2017 erwartet die Stadt sogar 4,6 Millionen Euro.

Bundesweit wird mit mehreren Tausend Gerichtsverfahren gerechnet, weil Spielhallenbetreiber um ihre Existenz fürchten. In Schleswig-Holstein dürfte die Klagewelle geringer ausfallen, denn der Norden hat eines der moderatesten Gesetze überhaupt. Während in anderen Bundesländern auch für bestehende Spielhallen strenge Abstandsregelungen gelten, greifen die im Norden nur bei neu eröffneten Spielotheken. Sie werden nur genehmigt, wenn ein Mindestabstand von 300 Metern zur nächsten Daddelbude sowie zu Kinder- und Jugendeinrichtungen besteht.

Ein Blick nach Kiel, Neumünster oder Lübeck zeigt, oft liegen die Daddelbuden nicht nur in Sichtweite, sondern in unmittelbarer Nachbarschaft und daran ändert sich auch nichts, weil sie unbefristeten Bestandsschutz genießen.

Patrick Sperber von der Landesstelle für Suchtfragen ist über die Entwicklung alles andere als begeistert. „Das ist dramatisch, weil jetzt das Gegenteil von dem eintritt, was geplant war.“ Um gegen Spielsucht vorzugehen, sei Angebotsreduktion ein wichtiger Hebel. „70 Prozent aller Fälle, die in unseren Beratungsstellen Hilfe suchen, kommen aus dem Automatenspiel“, berichtet er. Und helfen müssen Sperber und das Team der Landesstelle immer häufiger. Waren es 2009 noch 340 Fälle, ist die Zahl der Beratungen in diesem Jahr auf über 700 gestiegen.

Abgesehen von der Flut der Spielhallen, die ganze Stadtbezirke dominieren, verlagert sich das Problem laut Sperber zunehmend in Kneipen und Dönerbuden. „Fatal ist, dass hier auch Jugendliche Zugang zu den Geräten mit dem bekanntermaßen höchsten Suchtpotenzial haben und schon früh Kontakt zum Glücksspiel bekommen.“ Sperber räumt ein: „Natürlich stehen Vergnügungssteuern und Jobs auf dem Spiel, wenn man rigoros durchgreift – das ist ein Spagat für die Kommunen.“ Aber die Augen vor den Folgen der Spielsucht zu verschließen, bringe auch nichts. „Die Leute verspielen Haus und Hof.“

Quelle:https://www.shz.de/18403046 ©2018

Immer mehr Spielsüchtige im Norden

In Schleswig-Holstein leiden immer mehr Menschen unter Spielsucht: Die Landesstelle für Suchtfragen (LSSH) geht von bis zu 15.000 Abhängigen und 12.400 gefährdeten Personen aus – Tendenz steigend. Große Sorgen bereiten den Experten neue Glücksspielangebote im Internet und mobile In-App-Games.

Kiel . Mit einem bundesweit einmaligen Online-Projekt sollen jetzt vor allem junge Menschen für die Suchtgefahren sensibilisiert werden. Mathias Speich, Geschäftsführer der Landesstelle für Suchtfragen, spricht von einer besorgniserregenden Entwicklung: „Das Alter von Spielsüchtigen sinkt kontinuierlich.“ Das Durchschnittsalter von Schleswig-Holsteinern, die Hilfe in den Beratungsstellen suchten, liegt bei 34 Jahren. 2010 waren Spielsüchtige im Schnitt noch 37 Jahre alt. „Erschwerend hinzu kommt eine gewaltige Grauzone, da Spielsucht häufig nicht schnell genug erkannt wird“, mahnt Speich.

Längst seien Spielotheken, Casinos, Lotterien und Sportwetten nicht mehr das größte Problem: „Wir sehen die Entwicklung im Internet mit großen Sorgen“, sagt der LSSH-Chef und spricht von neuen Formen der Spielsucht, die besonders für Jugendliche gefährlich sind. „Die Hersteller von webbasierten Computerspielen locken die User in die grundsätzlich kostenlosen Online-Games, in denen für das Weiterkommen allerdings spezielle Features notwendig sind“, berichtet der Suchtexperte.

Um diese zu bekommen, muss der Nutzer im Spielverlauf lange warten – „oder er kann die virtuellen Gegenstände und Fähigkeiten für reales Geld per Kreditkarte kaufen“, so Speich. Da der Wunsch auf einen schnellen Erfolg bereits ein elementares Kriterium von Spielsucht sei, stuft die LSSH das Risiko für Online-Spieler entsprechend hoch ein.

Die Landesstelle will jetzt mit ihrem neuen Projekt „Onlineverzockt.de“ im Internet auf die Gefahren von Spielsucht hinweisen. Auf der Website können Internetnutzer anhand kurzer Videosequenzen einen Selbsttest zum Thema Online-Wetten und -Glücksspiel machen, um zu erkennen, wie hoch das Gefahrenpotenzial ist, und bekommen Hilfsangebote. Unterstützt wird das zunächst auf drei Jahre angesetzte Webprojekt von einem ungewöhnlichen Sponsor: der Spielbank Schleswig-Holstein.

Quelle: KN-Online.de vom 06.03.2018

Glücksspiel und die Spirale ins persönliche Verderben

Spielsucht zerstört Existenzen - finanziell, sozial, emotional. Die Dunkelziffer der Betroffenen ist hoch, die erwirtschafteten Umsätze im Milliardenbereich. Paul Wenzel steckte sein Geld jahrzehntelang in die Automatenindustrie. Und setzte alles aufs Spiel.

Ein letztes Mal sitzt Paul Wenzel seinem Endgegner gegenüber. Es klingelt und blinkt, rotiert und rattert. Etwa hundert Euro hat er dabei, so genau kann er das im Nachhinein nicht mehr sagen. Jedenfalls alles an Geld, was zu Hause zu finden ist, als er sich herausschleicht, während seine Lebensgefährtin schläft. Es war nichts vorgefallen, es gab keinen Anlass, er hatte es eigentlich schon so lange geschafft. Jetzt sitzt er wieder da, vor seinem Lieblingsspiel Take 5, die Obstsymbole flimmern vor seinen Augen. Irgendetwas ist anders. Die Mauer, die sich sonst um ihn herum hochzieht und ihn abschirmt von allem, fehlt. Der Tunnelblick, der ihn alles um sich herum vergessen lässt, fehlt. Die Gäste, die Bedienung am Tresen, alles bekommt er mit. Um vier Uhr morgens verlässt Paul Wenzel die Kneipe. Als Gewinner. Auch wenn es sich in diesem Moment nicht so anfühlt.


Jahrzehntelang hat Wenzel gewonnen und er hat verloren, dann hat er weitergemacht, um die Verluste irgendwie auszugleichen – und den Gewinn gleich wieder eingesetzt. Gewinn, Verlust, Verzweiflung. Und von vorne. Der Kreislauf bestimmte sein Leben fast vierzig Jahre lang. Es ruinierte ihn. Finanziell, sozial, emotional. Paul Wenzel ist jetzt 56 Jahre alt und kann gar nicht sagen, wann das Ganze eigentlich zum Problem wurde.


Glücksspiel gab es schon vor 5000 Jahren

Spielsucht, in der Medizin "pathologisches Glücksspiel", zählt zu den stoffungebundenen Süchten, den Verhaltenssüchten. Sie zeichnet sich vor allem durch das Kriterium ab, dass Geld eingesetzt wird. Ihre Formen können unterschiedlich sein und sind längst keine Erfindung der Neuzeit: Von den Würfelspielen Mesopotamiens vor 5000 Jahren über die ersten Kartenspiele aus Asien im 12. Jahrhundert oder Englands Fußball- und Pferdewetten im 18. Jahrhundert sind es heute vor allem Spielbanken, Lotterien, Automaten und Online-Casinos, die Menschen in den Bann ziehen. Internet- oder Onlinesucht, etwa das zwanghafte Spielen von Rollenspielen am Computer, ist dagegen eine andere Diagnose. Die sogenannte Gaming Disorder und wurde erst 2018 von der Weltgesundheitsorganisation aufgenommen in die International Classification of Diseases (ICD-10), dem internationalen Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen. Auch Glücksspielsucht wurde lange Zeit überhaupt nicht als Krankheit betrachtet. Süchte allgemein galten Jahrhundertelang als moralische Entgleisung, als Ausdruck von Charakterschwäche, Ärzte fühlten sich nicht zuständig. „Pathologisches Spielen“ ist seit 1992 im ICD-10 als Krankheit anerkannt.


Wie viele Menschen in Deutschland spielsüchtig sind, kann niemand genau sagen, die Dunkelziffer ist laut Experten sehr hoch. Repräsentativen Umfragen der Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) zufolge gibt es aktuell 330.000 Menschen mit problematischem Spielverhalten und 180.000 mit pathologischem Spielverhalten. Mediziner unterscheiden zwischen problematischer und eben pathologischer Spielsucht. Die Übergänge sind natürlich fließend und zeigen sich im Grunde in der Anzahl der Aussagen, die im Diagnosefragebogen mit Ja beantwortet werden: Sie denken intensiv und häufig an Glücksspiel, der Drang zum Spielen beherrscht Ihre Gedanken? Sie werden unruhig, wenn Sie nicht spielen können? Sie vernachlässigen Pflichten, Ihren Beruf, Ihre Beziehung?

Ja, ja und ja, hätte Paul Wenzel antworten müssen, hätte ihn jemand gefragt.

Lange Zeit tat das niemand. Lange Zeit war da auch niemand, nur der Automat. Früh fing das an, als er noch ein Kind war, ungefähr zehn Jahre alt. Mit vier Geschwistern wächst Wenzel in Hagen auf, südliches Ruhrgebiet, klassische Arbeiterfamilie. Jeden Nachmittag schickt die Mutter ihre Kinder den Vater holen, der nach Feierabend lieber in die Kneipe geht als nach Hause. „Spielt ihr eine Runde, dann kann ich noch ein Bier trinken“, kriegt der kleine Paul von seinem Vater zu hören samt ein paar Groschen; klettert auf den Barhocker und schmeißt die ersten 20 Pfennig in die bunte Kiste. Zu gewinnen gibt es damals kaum etwas, vielleicht 100 Mark. Aber was gibt es schon zu verlieren?


Der Spielautomat ist immer für Paul Wenzel da

Der Automat wird sein erster Freund und er bleibt sein bester. Als Teenager schenkt er ihm sein Taschengeld, als Bäckerlehrling sein erstes Gehalt. Wenn ihn die Jungs mit in die Diskothek oder in die Kneipe nehmen, ist sein blinkender Freund immer schon da. Er verbringt dann die Zeit lieber mit ihm, sie haben Spaß zusammen, er lässt ihn die Zeit vergessen und alle Sorgen. Es könnte die Welt untergehen, Hauptsache mein Automat bleibt, denkt Paul. Sein Freund, der Automat, ist immer da. Bald ist er der einzige.


Warum ist Paul Wenzel spielsüchtig geworden? Und warum ist er es so lange geblieben? Zumindest auf die erste Frage haben Forscher einige Antworten gefunden. Untersuchungen zeigen, dass Suchterkrankungen auf zwei Dinge zurückführbar sind: auf biologisch-genetische Ursachen und auf soziale Faktoren. Dass Süchte grundsätzlich vererbt werden, getreu dem altgriechischen Spruch „Trinker erzeugen Trinker“, den einst die Nationalsozialisten missbrauchten, stimmt so allerdings nicht. Vielmehr wird, um beim Beispiel Alkohol zu bleiben, die Verträglichkeit vererbt, erklärt Ulrich Kemper, Chefarzt der LWL-Klinik für Suchtmedizin in Gütersloh. Je besser der Körper Alkohol verträgt, je trinkfester jemand ist, desto größer das Risiko der Abhängigkeit. Theoretisch hätten diese Menschen aber immer auch eine Wahl, keine Sucht entsteht zwangsläufig, sagt Kemper. So sei es im Prinzip mit allen Süchten.


Ein gewisses Interesse am Spiel, eine Anfälligkeit, hat Paul Wenzel also vielleicht mit in die Wiege gelegt bekommen. Aber nicht bloß seine Gene sind entscheidend. Auch die Sozialisation spielt eine große Rolle. Welches Bild gab der Vater ab, als Alkoholiker, als Erzieher, als Vorbild? Welche Belastung war er auch für die Familie, den kleinen Sohn? Hat er ihn nicht gar angefixt? War der Spielautomat ein Ventil für Wut und Enttäuschung? Oder ein Ersatz für nicht verfügbare Zuneigung?

Keine Freunde, keine Frauen, keine Hobbies. So fasst Paul Wenzel sein Leben als junger Erwachsener zusammen. Der Automat war immer verfügbar. Spielen macht einsam, das weiß er heute. „Früher hab ich gesagt: Wenn ich Familie und Kinder hab, höre ich auf. War aber nicht so.“

Jeder Gewinn ist nur eine Spielverlängerung

Paul Wenzel wird erwachsen – und seine Sucht wächst mit. Er arbeitet immer, anfangs als Bäcker, später als Pädagoge, mal in einer Schule, mal mit behinderten Menschen. Das Geld gibt er her für sein einziges Hobby, seinen Ausgleich. Stammläden hat er nicht, er will es überall probieren, seine Chancen maximieren, das Glück potenzieren, er spielt und spielt und spielt. Jeder Verlust ist Ansporn und jeder Gewinn nur eine Spielverlängerung. Er hat inzwischen eine Freundin und ein Kind, der für ihn wie ein eigener Sohn ist. Trotzdem macht er weiter; verspielt sein Geld, lebt von dem der Freundin. Wird zum Meister der Ausreden. Was hatte sein Auto nicht alles für Reparaturen. „Wir sind die größten Lügner, die es gibt“, sagt Wenzel. „Weil es funktioniert. Einem Alkoholiker sieht man den Suff ja an. Aber uns?“

Wenzel erfindet einen Kupplungsschaden für 400 Euro, sein Kumpel stellt ihm eine falsche Quittung aus. Eine Woche später geht die Kupplung wirklich kaputt.

Die Freundin schmeißt ihn aus der Wohnung, er wird arbeitslos, entscheidet sich für eine stationäre Therapie, es ist das Jahr 2006. Schon 1993 hatte er es damit probiert, da seien Ärzte auf so etwas überhaupt nicht vorbereitet gewesen, sagt Wenzel. Der damalige Oberarzt habe erstmal eine viertägige Fortbildung zum Thema Spielsucht machen müssen. Jetzt gibt es Gruppengespräche, Einzelgespräche, Paargespräche. Zwei Monate Ruhe. Rückfall.

In der Klinik von Ulrich Kemper werden im Schnitt 100 Suchtpatienten stationär behandelt, bis zu 25 davon wegen Spielsucht. Nur acht Prozent aller pathologischen Spieler nehmen professionelle Hilfe in Anspruch, sagt Kemper. Es gibt die „Kick-Spieler“, die auf Glücksgefühle und Euphorie aus sind, den Drang befriedigen müssen. Und es gibt die „Vermeidungs-Spieler“, die versuchen, Angst, Stress und Schuldgefühle zu kompensieren, die abschalten wollen, den totalen Tunnelblick. Wie Paul Wenzel. Beide Arten von Spielern werden in der Therapie „ursachenbezogen behandelt“: Die einen lernen dann, anderweitig Positives zu erleben, die anderen, mit ihren negativen Gefühlen umzugehen.

40 Milliarden Euro Jahresumsatz in der Glücksspielbranche

Therapien versuchen zu kitten, was oft schon sehr kaputt ist. Spielsüchtigen zu helfen, ist ein ambitioniertes Feld in der Medizin. Spielsucht zu verhindern, ein eher kleines in Politik und Wirtschaft. Da ist etwa der Glücksspielstaatsvertrag, um den lange und bis vor dem Europäischen Gerichtshof gerungen wurde und der nur drei Jahre hielt. Ursprünglich sollte er bundeseinheitlich helfen, das Angebot zu begrenzen und Jugendschutz gewährleisten - und zerfiel dann in mehrere Versionen des Glücksspieländerungsstaatsvertrags auf Länderebene. Seit Dezember 2017 gelten demnach in NRW zum Beispiel folgende Regelungen: Es darf nicht mehr mehrere Spielhallen in einem Gebäude geben. Eine Spielhalle muss mindestens 350 Meter Luftlinie von der nächsten Spielhalle entfernt sein, ebenso 350 Meter von Schulen und anderen Kinder- und Jugendeinrichtungen.

Das wirtschaftliche Potenzial der Glücksspielbranche mit einem Jahresumsatz von mehr als 40 Milliarden Euro ist enorm. Allein die Stadt Hagen, die Heimat von Paul Wenzel, macht nach eigenen Angaben pro Jahr gut 5 Millionen Euro Einnahmen durch die sogenannte Vergnügungssteuer. Die Stadt hat diese "Steuer auf Apparate mit Gewinnmöglichkeit in Spielhallen" in den vergangenen Jahren mehrfach erhöht, sie liegt jetzt bei 21 Prozent. Zur Zeit gibt es offiziell 73 Konzessionen an 46 Standorten, Spielhallen inklusive. Seit Änderung der Rechtslage hätten insgesamt sechs Spielstätten geschlossen, sagt eine Sprecherin der Stadt. "Dies hatte in der Regel einen wirtschaftlichen oder persönlichen Hintergrund." Eine einzige Spielstätte sei abgemeldet worden, weil der Vermieter aufgrund der Rechtslage den Vertrag nicht verlängern wollte. Und aktive Kontrollen? Konsequenzen? Dazu heißt es lediglich: Sofern eine der abgemeldeten Spielstätten wieder geöffnet würde, ohne die erforderlichen Genehmigungen zu haben, würden diese durch den Städtischen Ordnungsdienst geschlossen." Für viele ist auch dieser Grauzonenbereich Teil des Suchtproblems.

„Ich bin spielsüchtig, das wird immer so bleiben“

Paul Wenzel packt es irgendwann. Als seine Freundin mit ihm Schluss macht, macht er Schluss. „Nach einer Nacht am Automaten hab ich in den Spiegel geguckt und gedacht: Noch ein, zwei Monate, dann lande ich unter der Brücke. Aber dann wäre ich gesprungen.“ Er sucht sich eine Therapeutin und eine Gruppe, gründet später eine eigene. Die Gruppe gibt Halt, Hilfe, Selbstkontrolle. Er bleibt konsequent. Als er die Ex-Freundin trifft und sie nach einem Kaffee fragt, sagt er: Nein ich muss zu meiner Gruppe. Zwei Monate später kommen sie wieder zusammen, 2016 heiraten sie. Geld ist ein Gut, das sie jetzt teilen, für Urlaube, ein neues Auto, eine Renovierung. „Es fühlt sich toll an“, sagt Wenzel.

Das letzte Spiel fühlt sich nicht gut an. Es ist diese Nacht, in dem die Wand fehlt, und der Tunnelblick. Heute weiß Wenzel, dass das nötig war. Als geheilt sieht er sich trotzdem nicht. „Ich bin spielsüchtig, das wird immer so bleiben“, sagt er. Das Risiko bleibt. Etwa als sie ihren neuen Hund abholen wollen, und an einer Raststätte halten. Wenzel sieht einen Mann am Spielautomaten, und er sieht sich selbst. Er war oft an Raststätten zum Spielen. „Aber das einzige, das ich dann dachte, war: Mensch, der Kaffee hier kostet verdammte vier Euro.“

 

Quelle: Julia Rathcke/RND in den Kieler Nachrichten Online vom 11.09.2019

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